Eigentlich müssen Institute schon immer eine Angemessenheitsprüfung durchführen. Die Angemessenheitsprüfung ist die kleine Schwester der Geeignetheitsprüfung und führt einen Dornröschenschlaf. Sie ist deswegen etwas ins Hintertreffen geraten, weil die Institute im Rahmen einer Anlageberatung und einer Finanzportfolioverwaltung eine umfassende Geeignetheitsprüfung für den Kunden durchführen müssen. Im Rahmen dieser umfassenden Prüfung, dem Herzstück von MiFID II, ist festzustellen, ob eine Empfehlung an den Kunden seinen Anlagezielen entspricht, ob er ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen hat, um das Risiko der Empfehlung einschätzen zu können und ob er ausreichend finanzielle Ressourcen aufweist, um dieses Risiko auch tragen zu können. Dazu kommt seit Sommer dieses Jahres auch noch die Frage, ob die Empfehlung den Nachhaltigkeitspräferenzen der Kunden entspricht. Im Rahmen der Vermögensverwaltung wird diese Prüfung anhand von konkreten Anlagerichtlinien durchgeführt, im Rahmen der Anlageberatung für die Hallo Empfehlung eines bestimmten Wertpapiers. Bei einer Anlageberatung ist auch noch eine Erklärung zur Geeignetheit zu verfassen und dem Kunden zur Verfügung zu stellen.
Wegen des großen Dokumentationsaufwands der Geeignetheitsprüfung mittels interner Aufzeichnungen und in der Anlageberatung für den Kunden durch Geeignetheitserklärung ist die Angemessenheitsprüfung etwas ins Hintertreffen geraten. Sie ist außerhalb der Anlageberatung und der Finanzportfolioverwaltung für alle anderen Wertpapierdienstleistungen erforderlich. Wenn z. B. der Kunde, ohne beraten zu werden, ein bestimmtes Wertpapier ordern will, dann liegt nur eine Anlage- oder Abschlussvermittlung vor, die Order wird nur „durchgerootet“ und an die Depotbank weitergegeben. Die Depotbank gibt solche Orders wiederum weiter an Abwicklungsstellen, Clearinghäuser, zentrale Gegenparteien, Clearstream oder andere Abwickler. All das sind sogenannte beratungsfreie Geschäfte für Wertpapiere, je nach rechtlicher Ausgestaltung Abschlussvermittlung, Finanzkommissionsgeschäft, meistens eine reine Weiterleitung der Orders als Anlagevermittlung. Für all diese Geschäfte ordnet die MiFID die sogenannte Angemessenheitsprüfung an. Durch sie sollen die Institute prüfen, ob der Kunde ausreichend Kenntnisse oder Erfahrungen besitzt, um das Risiko korrekt einschätzen zu können.
Diese Prüfung ist etwas ins Hintertreffen geraten, weil sie durch das Execution-only-Privileg bei vielen Wertpapiergattungen nicht erforderlich ist. Für sogenannte nicht komplexe Finanzinstrumente muss die Angemessenheitsprüfung nicht durchgeführt werden, das sind Standardaktien, Fonds, Bonds und andere Wertpapiere, die als nicht komplex eingestuft werden können. Da die Angemessenheitsprüfung daher nur für komplexe Wertpapiere durchgeführt werden muss, führt sie ein aufsichtsrechtliches Schattendasein. Die Anforderung wird etwas stiefmütterlich behandelt. In der Praxis einiger Institute wird bei einem Kunden, der schon Wertpapiere im Depot hat, davon ausgegangen, er werde schon die erforderlichen Erfahrungen mitbringen oder er sei bereits ausreichend aufgeklärt, wenn ihm die Basisinformationen ausgehändigt wurden. Mit dieser laxen Haltung wird bald Schluss sein, weil die ESMA im April dieses Jahres neue Leitlinien für die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft vorgestellt hat. Die nationalen Aufsichtsbehörden müssen diese Leitlinien umsetzen und deswegen ist bald mit einer Ergänzung der MaComp um diese europäischen Vorgaben zu rechnen. Das wird nicht sehr schlimm werden, weil die Leitlinien denen für die Geeignetheitsprüfung sehr ähnlich sind und wir daher auf bekannte Vorgaben treffen:
Die Institute sollen den Kunden erklären, warum sie Daten erheben und dass die Angemessenheitsbeurteilung im Interesse des Kunden durchgeführt wird. Der Kunde soll verstehen, dass er seine Angaben zu Kenntnissen und Erfahrungen zu seinem Schutz erteilen soll und um das Institut in die Lage zu versetzen, die Angemessenheitsbeurteilung durchzuführen. Bei Abfrage der Kenntnisse und Erfahrungen sollen die Institute spezifisch vorgehen und nicht zu pauschal. Zum Beispiel gilt es als Suggestivfrage und unzulässig, wenn die Frage gestellt wird, ob der Kunde sich als ausreichend erfahren betrachtet. Auch sehr allgemein gehaltene Fragen, die nur mit Ja oder Nein zu beantworten sind, sieht die ESMA kritisch. Vielmehr sollen die Institute den Kunden präzise abfragen, zu welchen Wertpapieren der Kunde Kenntnisse oder Erfahrungen hat. Je komplexer die vermittelten Produkte sind, je detaillierter muss die Abfrage der Kenntnisse und Erfahrungen erfolgen. Will der Kunde zum Beispiel ein strukturiertes Produkt erwerben, ein Derivat oder ein CFD, muss eben abgefragt werden, ob er mit solchen Produkten vertraut ist und es reicht nicht aus, seine Kenntnisse und Erfahrungen in Immobilienfonds abzufragen. Zudem soll die Abfrage der Daten plausibel erfolgen, um auch Inkongruenzen zu entdecken. Gibt zum Beispiel ein Kunde keinerlei Erfahrungen an, aber sehr hohe und detaillierte Kenntnisse, sollte dem nachgegangen werden, mittellose Professoren sind selten. Die Kundeninformationen sollen auch immer wieder aktualisiert werden. Bei Personenmehrheiten, zum Beispiel mehreren Vorständen oder Geschäftsführern, die eine Firma vertreten, Eltern, die ein Kind vertreten, oder Ehegatten benötigt das Institut ein Verfahren, um festzustellen, auf welche Kenntnisse und Erfahrungen abgestellt werden darf. Das erledigt man am einfachsten durch ein Formular, indem mehrere Kunden erklären, auf wen abgestellt werden darf.
Die ESMA macht auch klar, dass die Sache nur funktionieren kann, wenn die Institute ihre Produkte verstehen und die Vertriebsmitarbeiter sich mit den vertriebenen Finanzinstrumenten auskennen.
Hat ein Kunde nicht die erforderlichen Kenntnisse oder Erfahrungen, soll er eine Warnung erhalten. Hierzu stellt die ESMA klar, dass diese nicht verharmlosend sein darf und dem Kunde auch ins Auge springen soll. Das kann durch ausdrücklichen textlichen Hinweis, separate E-Mail ohne weitere Inhalte, Farbgebung, Pop-up-Fenster in einer Onlinestrecke oder ähnliche Verfahren geschehen. Erledigen Algorithmen die Arbeit, ist ein geeignetes Systemdesign und eine Dokumentation notwendig.
Letztlich verlangt die ESMA auch eine Dokumentation, um das Verfahren durch den Wirtschaftsprüfer oder Aufsichtsbehörden nachprüfen lassen zu können. Die Ergebnisse der Angemessenheitsprüfung einschließlich Begründung sind zu dokumentieren, ebenso die Hinweise an die Kunden und seine Order, trotz Warnhinweis an der Transaktion festzuhalten. In den internen Aufzeichnungen, das heißt dem Organisationshandbuch, sind entsprechende Regelungen notwendig.
Bitte nehmen Sie die Anforderungen ernst, die Laxheit, mit der das Thema in der Vergangenheit gehandhabt wurde, dürfte sich spätestens mit einer Neufassung der MaComp erledigt haben.
Mit den besten Grüßen
Ihr
Dr. Christian Waigel
Rechtsanwalt